Große Versprechen, kaum Nutzen

Reifengas ersetzt nicht die Kontrolle

AdobeStock_pairhandmadeLaut ETRTO bleibt eine regelmäßige Prüfung des Reifendrucks von kritischer Bedeutung und notwendig.  Foto: AdobeStock - pairhandmade

Und so wundert es kaum, dass eine Anfrage von Automotive Insights bei einigen der Anbieter auf zögerliches oder völlig ausbleibendes Reaktionsverhalten trifft. Von ATU und Vergölst erreichte uns keine Antwort, aus der System-Zentrale einer großen Kooperation heißt es hingegen, dass in ihrem Netzwerk jeder Unternehmer selbst entscheide, welchen zusätzlichen Service er vor Ort anbietet. „Wir haben jetzt daraufhin noch einmal unsere Händlerbetreuer gefragt, wie denn mittlerweile mit dem Thema Reifengas vor Ort umgegangen wird und dabei festgestellt, dass es bei unseren Betrieben fast kein Thema mehr ist.“ Noch wird der Service, bei dem statt Luft (die zu 78 Prozent aus Stickstoff besteht) Stickstoff in die Reifen gepumpt wird, trotzdem angeboten – was sich bald ändern könnte. Denn, wie es weiter heißt, würden die neueren technischen Erkenntnisse zum Anlass genommen, „unsere Marketingaussagen dazu schnellstmöglich auf den Prüfstand zu stellen bzw. ganz von unseren Websites zu eliminieren“.

Bei einem anderen, nicht genannt werden wollenden Unternehmen gibt man sich ähnlich überrascht und ahnungslos: „Nach diversen Rücksprachen hat sich herausgestellt, dass das Thema Reifengas in der Unternehmensgruppe etwas mehr Rechercheaufwand benötigt als gedacht.“ Und weiter: „Das erste Analysebild ist so uneinheitlich, dass wir die Daten erst noch weiter hinterfragen müssen, bevor wir dazu eine Stellungnahme abgeben könnten.“ Das legt den Verdacht nahe, dass das Standing des eigenen Produkts in den Unternehmen selbst nicht besonders hoch ist. Dennoch wird es angeboten, nach der alten „Sell it and they will come“-Devise. Und das obwohl sich unter anderem der ADAC 2024 schon kritisch äußerte und eine Untersuchung zu dem Thema mit den Worten resümmierte: „Reifengas lohnt sich nicht!“

„Minimal geringerer Reifendruckverlust“

Selbst Michael Schwämmlein, Technischer Geschäftsführer vom Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk e.V. (BRV), hält sich zu unseren Fragen, wie dort auf das Verhältnis von Kosten und Nutzen von Reifengas für den privaten Verbraucher geblickt wird und ob ihnen Studien vorliegen, die die Vorteile der Verwendung von Reifengas bei Pkw belegen, relativ bedeckt: „Als Handelsverband geben wir hierzu keine eigenen Empfehlungen heraus, sondern orientieren uns an der Einschätzung der Reifenhersteller, die hier mehr Erfahrungen und Tests gemacht haben.“ Allerdings verweist man auf das jüngste Statement der European Tyre and Rim Technical Organisation (ETRTO), das mindestens zwischen den Zeilen den Nutzen einer Befüllung mit Stickstoff anzweifelt: „Bei normalen Anwendungen der Reifen ist das Füllen der Reifen mit Stickstoff nicht erforderlich.“ Allerdings könnten die Eigenschaften von Stickstoff „zu minimal geringerem Reifendruckverlust beitragen“. Trotzdem bliebe eine regelmäßige Prüfung des Reifendrucks von kritischer Bedeutung und notwendig. „Der Einsatz von Stickstoff alleine ersetzt nicht die regelmässige Prüfung des Reifenfülldrucks“, schreibt die Organisation und warnt, „dass das Verlassen auf den Stickstoff alleine, um die notwendigen Druckprüfungs-Anforderungen zu senken, letztendlich zu einem Betrieb mit Unterdruck, und damit zu einem vorzeitigen Reifenversagen führen kann“. Hinzu kommt, dass das Nachfüllen von Reifengas bislang nur bei wenigen Tankstellen möglich ist, sodass Autobesitzer auf den Fachhandel angewiesen sind. Kostenpunkt einer Befüllung: 10 bis 15 Euro.

Prüfverhalten ausschlaggebend

Trotzdem werben die Anbieter im Gleichklang mit Vorteilen wie konstantem Reifendruck, geringerem Kraftstoffverbrauch, verlängerter Haltbarkeit und Laufleistung, erhöhter Sicherheit, verringertem Abrollgeräusch der Reifen, mehr Fahrkomfort oder verminderter Brandgefahr. Nimmt man sich diese vermeintlichen Pluspunkte genauer vor, wird klar, dass die meisten davon nichts mit dem verwendeten Füllstoff zu tun haben. Ein konstanter Reifendruck ist allein abhängig vom Prüfverhalten des Fahrzeughalters (auch bei Reifengas wird eine zweiwöchige Frequenz beim Überprüfen des Luftdrucks empfohlen). Und dass sich ein korrekter, konstanter Reifendruck in geringerem Kraftstoffverbrauch und einer längeren Laufleistung der Reifen äußert, ist auch bekannt. Ebenso, dass er die Sicherheit erhöht, das Abrollgeräusch verringert und letztendlich für mehr Fahrkomfort sorgt. Bliebe noch die verminderte Brandgefahr. Hierzu das Statement der ETRTO: „Bei Anwendungen wie in der Luftfahrt, im Bergbau und bei Nutz- und Schwerfahrzeugen wird Stickstoff oft eingesetzt, um die Brandgefahr im Falle eines Überhitzens von Brems-/Felgen-/Radkomponenten zu mindern.“ Ebenso im Berufsrennsport. Dort würde Trockenstickstoff auch eingesetzt, „um zur Reduzierung (feuchtigkeitsbedingter) Reifendruck-Schwankungen beizutragen, denn selbst kleinste Druckunterschiede können das Fahrverhalten des Fahrzeugs im extremen Leistungs-Grenzbereich beeinflussen.“ Ein Fahren im extremen Leistungs-Grenzbereich ist im privaten Pkw-Segment jedoch kein Thema.

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