“Kasseler Erklärung”

Arbeitnehmervertreter kritisieren “wenig glaubwürdige Strategie" bei Werksschließungen

Demo gegen Werksschließungen ReifenindustrieMit Unterstützung der IG BCE wurde in vergangenen Wochen wie hier bei Goodyear in Fürstenwalde mehrfach gegen die Schließungs- und Stellenabbaupläne demonstriert.  Foto: IG BCE

Michelin will seine Werke in Karlsruhe und Trier schließen, Goodyear plant selbiges für seine Standorte Fulda und Fürstenwalde. Über die Vorhaben der beiden Konzerne haben wir bereits mehrfach berichtet und auch die allgemeine Entwicklung in der deutschen Reifenindustrie in den vergangenen Jahren beschrieben. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Pläne von Goodyear und Michelin hatten Vertreter der Gewerkschaft IG BCE, Betriebsräte wie auch Politiker Widerstand gegen die Maßnahmen angekündigt und die Suche nach alternativen Möglichkeiten forciert. Erst Mitte Februar legte die Arbeitnehmerseite verschiedene Konzepte für einen Erhalt der betroffenen Michelin-Standorte vor. 

Vergangene Woche fand nun eine zweitägige „Betriebsrätekonferenz der Reifenwerke“ statt, bei der die allgemeine Zukunft der deutschen Reifenindustrie im Mittelpunkt stand. Gemeinsam wurde die sogenannte “Kasseler Erklärung“ verabschiedet. Die Kernbotschaft des vierseitigen Forderungspapiers lautet laut IG BCE: “Mit Reifen Made in Germany lässt sich bis heute gutes Geld verdienen, hier gibt es die nötigen Fachkräfte und das nötige Know-how.” Damit dies so bleibe, seien allerdings seitens der Politik und der Unternehmen bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen. 

„Wir wollen, dass Reifen ein Hochtechnologie- und Zukunftsprodukt des Industriestandorts Deutschland bleiben“, konkretisiert IG-BCE-Vorstandsmitglied Francesco Grioli die Forderungen. „Wir sollten unsere Standortvorteile nicht leichtfertig aufgeben und Wissen, Erfahrung und Können zum Fenster rauswerfen.” Mit Blick auf die geplanten Standortschließungen spricht der Gewerkschafter von einer “völlig überzogenen Reaktion” sowie einem “nur schwer nachvollziehbaren Schritt.“ Immerhin stünden nicht nur ein Drittel der deutschen Reifenwerke, sondern in Summe auch mehr als 3.300 Arbeitsplätze auf dem Spiel. 

Engere Zusammenarbeit mit Pkw- und Lkw-Herstellern gefordert

Ein Hauptkritikpunkt der Arbeitnehmervertreter ist etwa, dass die Pläne wirtschaftlich nicht notwendig sind. Der Branche gelinge es trotz des herausfordernden Umfelds und deutlich gestiegener Erzeugerpreise insgesamt profitabel zu wirtschaften und auch die Bruttowertschöpfung sei mit 28 Prozent – trotz Corona und Ukraine-Krieg – nahezu stabil geblieben. “Auch Personal-, Material- und Energiekosten stellen keine plausiblen Gründe für die Schließung oder die Verlagerung von Produktionskapazitäten und -werken dar”, so die IG BCE. Francesco Grioli kritisiert: „Für uns ist das weder eine gute noch eine glaubwürdige Strategie, weil wir wissen, dass parallel die Ausweitung der Produktion in Osteuropa vorbereitet wird.“

Aufseiten der Reifenhersteller sehen die Betriebsräte eine ganze Reihe von Möglichkeiten, mit denen sich die Reifenproduktion in Deutschland möglicherweise erhalten ließe. Gefordert wird in der „Kasseler Erklärung“ etwa eine noch engere Zusammenarbeit mit den deutschen Pkw- und Lkw-Produktionsstandorten, um Effizienzpotenziale voll auszuschöpfen. Die Nähe des Goodyear-Werkes in Fürstenwalde zum Tesla-Standort in Grünheide wurde in diesem Zuge bereits mehrfach als vorteilhaft benannt. Diese biete eine “ideale Option für eine effiziente Just-in-Time-Belieferung”. Darüber hinaus wird eine noch engere Verzahnung der Forschungsabteilungen der Erstausrüster (OEMs) mit denen der Reifenhersteller gefordert. 

Parallel dazu trägt nach Ansicht der IG BCE und der Betriebsräte auch die Bundespolitik unternehmerische Verantwortung für den Standort Deutschland. „Die Politik muss einseitige Standortnachteile im globalen Wettbewerb vermeiden, um nicht selbstverursachte Schäden von der heimischen Reifenindustrie abzuwenden“, betont Grioli. Es gelte, seitens der Bundesregierung und der EU die notwendigen industriepolitischen Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Industriegesellschaft zu erhalten. Zentral ist hierbei unter anderem die Umrüstung der Werke auf erneuerbare Energiequellen. Ein überparteiliches Bündnis aus Bundestagsabgeordneten, in deren Wahlkreisen Reifenfabriken liegen, fordert hierfür Unterstützung der Politik. 

Wie es mit den betroffenen Standorten weiter geht, werden die nächsten Wochen zeigen. Die vorliegenden Optionen für die Michelin-Werke werden aktuell offenbar “ergebnisoffen“ geprüft. Für den Goodyear-Standort Fürstenwalde wurde zwischenzeitlich zumindest über einen Verkauf spekuliert. Aktuell scheint an den Plänen jedoch nichts dran zu sein. Weitere Gesprächsrunden bezüglich der Zukunft der bedrohten Werke und möglichen Lösungen für die betroffenen Mitarbeiter:innen dürften folgen. Mit der "Kasseler Erklärung" hat sich die Arbeitnehmerseite nochmals eindeutig positioniert.

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