Pirelli in Breuberg

“Wir sind ein kleiner und agiler Spieler”

Pirelli BreubergDas Reifenwerk in Breuberg zählt zu den größten im Produktionsverbund von Pirelli.  Foto: Pirelli

Es ist das Jahr 1994, als Wolfgang Meier seine Arbeit in der Einkaufsabteilung bei Pirelli in Breuberg beginnt. 30 Jahre später – und nach vielen Stationen innerhalb des Konzerns – hat sich für ihn der Kreis geschlossen und er ist als CEO der Pirelli Deutschland GmbH “wieder nach Hause gekommen”, wie er selbst sagt. Nach Hause an einen Standort, der innerhalb des weltweiten Produktionsnetzwerks von Pirelli eine herausragende Stellung einnimmt. “Wir haben hier am Standort ein Entwicklungszentrum mit 250 Ingenieuren und Ingenieurinnen, die Reifen für die deutsche Automobilindustrie und für die Erstausrüstung entwickeln. Außerdem produzieren wir nicht nur Pkw- sondern auch Motorradreifen. In der Kombination gibt es das nicht so häufig im Konzern”, erläutert Meier.   

Insgesamt sind in Breuberg rund 2.500 Menschen beschäftigt. Die jährliche Produktionsleistung der Fabrik liegt bei mehr als sieben Millionen Reifen – Pkw-Reifen der Marke Pirelli sowie Motorradreifen der Marke Metzeler. Damit zählt das Werk zu den größten im Pirelli-Verbund. Dabei ist Größe nach Aussage von Wolfgang Meier keinesfalls das bestimmende Kriterium: “Entscheidend sind die Produkte, die man in seinem Portfolio hat.” Mit diesen bespielt Pirelli vorrangig das Premium- und Prestige-Segment, wobei Breuberg mit seinem dedizierten Fokus auf Performance-Reifen auch hier nochmals heraussticht. “Unsere extreme Stellung zum Thema Prestige ist sicherlich besonders”, betont Meier. 

Von zentraler Bedeutung ist dabei das OE-Geschäft mit namhaften Automobilherstellern, insbesondere solche, die in Deutschland ansässig sind. Mit Audi, BMW, Mercedes oder auch Porsche pflegt Pirelli eine intensive Zusammenarbeit. “Aufgrund der Wichtigkeit der deutschen Automobilindustrie können wir sicher sagen, dass Breuberg einer der wichtigsten Standorte des Pirelli-Konzerns ist”, unterstreicht Meier. Ein weiterer Baustein dieser Positionierung ist auch die Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Pirelli-Werken, die sich in Rumänien, Italien und England befinden. Insbesondere hinsichtlich der Entwicklung neuer Produkte nimmt Breuberg eine wesentliche Rolle ein – erst recht mit dem neuen Virtual Development Center (VDC), das Ende vergangenen Jahres eröffnet wurde. Einen solchen Simulator findet man ansonsten nur in Italien sowie in China. Die Investition in das VDC darf dabei als klares Bekenntnis zum Standort Breuberg verstanden werden. Zugleich steht das Projekt jedoch auch exemplarisch dafür, wie Pirelli Historie und Zukunft vereint. “Wir sind stolz darauf, dass wir hier in Deutschland produzieren. Der Stolz kommt sicher aufgrund der langen Historie und dem positiven Ausblick in die Zukunft”, fasst Wolfgang Meier zusammen. 

Personal und Identifikation

Das Zusammenspiel dieser beiden Pole ist eine Karte, die Pirelli auch bei den Themen Personal und Recruiting gezielt spielen kann. Die lange Tradition vor Ort repräsentiert Verlässlichkeit und Konstanz, Investitionen und Neuerungen verdeutlichen die Agilität und Zukunftsorientierung. Pirelli ist zudem der größte Arbeitgeber vor Ort. “Der größte, wichtigste Arbeitgeber zu sein, ist für uns auch eine Verpflichtung, die Fachkräfte, die wir brauchen, hier aus der Region zu rekrutieren”, verdeutlicht Wolfgang Meier. “Die Region lebt mit uns und wir für die Region.”

Mit weniger als 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern zählt die Region allerdings nicht gerade zu den Ballungsräumen Deutschlands. Aufgrund der überschaubaren Größe des Pools potenzieller Fachkräfte spielt auch der Faktor Ausbildung eine zentrale Rolle für den Reifenhersteller. Neben klassischen Ausbildungsberufen wie Industriekaufleute, Mechatroniker/in oder Elektrotechniker/in für Betriebs- oder Automatisierungstechnik werden inzwischen auch duale Studiengänge angeboten. Unternehmensangaben zufolge sind in Breuberg permanent rund 130 Nachwuchskräfte aktiv. “Wir bilden unsere Fachkräfte selbst aus und generieren natürlich damit auch die Basis für eine erfolgreiche Zukunft”, sagt Wolfgang Meier. Bei der Gewinnung der Fachkräfte von morgen kann Pirelli mit der Bekanntheit des eigenen Markennamens wie auch mit der außerordentlich hohen Azubi-Übernahmequote punkten. 

Trotzdem kann auch Pirelli das Thema Fachkräftemangel nicht vollends ignorieren. “Wir müssen heute mehr als noch vor 20 Jahren dafür arbeiten, einen ausreichend großen Kreis an Beschäftigten zu gewinnen”, konstatiert Meier. “Aber aufgrund der Kombination aus eigener Ausbildung, der Strahlkraft unseres Markennamens, unserer nachgewiesenen Innovationsfähigkeit und unserer Präsenz in der Region haben wir deswegen keine schlaflosen Nächte.” Durch die Nähe zu Frankfurt und neuen Arbeitsmöglichkeiten wie Smart Working oder Home Office könne Pirelli zudem einen größeren Bewerberkreis ansprechen. 

“Das Paket muss stimmen” 

Dass diese Strategien zum Erfolg führen, sieht Meier durch die lange Betriebszugehörigkeit vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bestätigt. “Die Leute kommen gerne hierher”, ist Meier überzeugt. Zudem seien einige bereits in dritter Generation für Pirelli tätig. Der vielzitierte Ausdruck “Gummi klebt” scheint in Breuberg in besonderem Maße zuzutreffen. Wolfgang Meier führt aus: “Einmal den Duft des Kautschuks gerochen zu haben, die Emotionalität, die Zukunftsfähigkeit, die Innovation des Unternehmens gespürt zu haben, hilft uns, diese Identifikation aufrechtzuerhalten". 

Jenseits der unzweifelhaft auch bei Wolfgang Meier selbst vorhandenen Identifikation sind jedoch auch Aspekte wie interessante Aufgaben, Kollegialität, ein harmonisches Miteinander und die Work-Life-Balance zunehmend wichtigere Aspekte. “Ihr Paket als Arbeitgeber muss natürlich auch stimmen”, bringt es Meier auf den Punkt. Bei dem von Pirelli geschnürten Paket scheint das der Fall zu sein. Und das nicht nur in Breuberg, wie Meier betont: “Wenn sie uns in der Mitte durchschneiden, läuft bei uns Pirelli-Blut aus den Adern. Das gilt aber nicht nur für den deutschen Standort, das ist etwas, was Sie im Konzern oder im Unternehmen in jedem Land erleben.” 

Hier in Deutschland stellt die Breuberger Belegschaft mit ihrer Identifikation und ihrem Engagement nach Meinung Meiers zudem selbst die weitere Relevanz des Standorts sicher: “Das Commitment, das unser Mailänder Headquarter uns gibt, in Deutschland weiter zu produzieren, und uns als zukunftssicher bezeichnet, ist nicht selbstverständlich. Das kommt aus der Leistungsfähigkeit, die wir mit unseren trainierten Mitarbeitern hier beweisen und aus der kontinuierlichen Innovation und der Investition, die wir am Standort haben. Das in Kombination macht uns natürlich sehr stolz.”

Die genannten Faktoren verstärken sich auf diesem Wege wechselseitig und sorgen zugleich dafür, dass sich nach Aussage Meiers alle Beschäftigten jeden Tag um den Erhalt des Standorts bemühen: “Ich kann mich jetzt nicht darauf festlegen, dass wir die nächsten 120 Jahre hier sein werden 120 Jahre deswegen, da wir jüngst ein Jubiläum feierten. Aber wir schauen konsequent nach vorne und arbeiten täglich daran, dass es hier keine Frage über den Standort gibt.” 

“Geübter Mitspieler im OE-Geschäft” 

Dass der Standort infrage steht, scheint aber ohnehin spätestens seit der bereits erwähnten Eröffnung des Virtual Development Centers, niemand zu befürchten. Blickt man auf die jüngere Vergangenheit, waren Nachrichten die deutsche Reifenindustrie betreffend selten positiver Natur. Da bildet das VDC einen erfreulichen Gegenpunkt, wenngleich Wolfgang Meier bekräftigt: “Wir schauen gar nicht, was andere in der Reifenindustrie in Deutschland machen. Wir konzentrieren uns auf unsere eigene Zukunftsvision und unsere eigenen Stärken.” Zu letzteren zählen sicherlich die ebenfalls bereits benannten Faktoren der engen Zusammenarbeit mit der Automobilindustrie sowie der Flexibilität. Beides wird auch am Beispiel des VDC deutlich. “Das Virtual Development Center ist eine Konsequenz der Ausrichtung, die die Erstausrüstung hat, Dinge virtuell zu entwickeln und wir sind in dem Bereich sicher Vorreiter und ein geübter, gekonnter Mitspieler im deutschen Erstausrüstungsgeschäft”, so Wolfgang Meier. Jüngster Beleg dieser These: Die Profile P Zero R und P Zero Trofeo RS wurden für den Porsche Taycan homologiert. 

Darüber hinaus hat die virtuelle Entwicklung, die man laut Meier “maßgeblich mit der Erstausrüstung” realisiert, auch Anknüpfungspunkte für den Aftermarket. “Es ist selbstredend, dass die Erfahrung, die wir aufgrund eines Lastenheftes und einer technologischen Anforderung für die Erstausrüstung entwickeln, auch in die Reifen, die für den Ersatzmarkt zur Verfügung stehen, einfließen”, bestätigt Meier. Er führt aus: “Die Künstliche Intelligenz hilft uns, Zusammenhänge zu erkennen, die man so mit einzelnen Menschen und einzelnen Gehirnen hätte gar nicht abbilden können. Wie weit uns das noch bringt, das mag ich gar nicht abschätzen.” Potenzial für die Reifenentwicklung ist in dieser Hinsicht aber unzweifelhaft vorhanden. 

Nachhaltigkeit bleibt Kernthema 

Durch das VDC kann Pirelli außerdem die Anzahl produzierter Prototypen reduzieren und damit seinen Ressourcenverbrauch senken. Für die eigenen Nachhaltigkeitsziele, die konzernweit CO2-Neutralität in der Stufe 1 und 2 bis 2030 vorsehen, ist das ein wichtiger Hebel. Dafür ist freilich mehr als ein geringer Materialeinsatz nötig, wie auch Wolfgang Meier weiß: “Wir verfolgen hier in Breuberg ein ganzheitliches Konzept, das nicht nur auf die Produkte und die Inhalte der Produkte schaut, sondern auch auf die Form, wie wir Energie generieren und wie wir Energie verbrauchen. Diese Ziele sind für uns nicht nur Auftrag, sondern es ist auch Obligo, diese zu erreichen.” 

Im Zuge seiner diesbezüglichen Initiativen will Pirelli das Konzept “Local for Local” – also die Fertigung eines Produkts nahe am jeweiligen Absatzmarkt – weiterverfolgen. “Auch der Faktor Mensch muss mitbedacht werden, es geht um Nachhaltigkeit und Fairness im Umgang mit unseren Kolleginnen und Kollegen, aber auch im Umgang mit den Regionen, in denen wir aktiv sind”, so Wolfgang Meier. “Das ist ein großer, ein schwerwiegender und auch ein anstrengender Weg, den man da zurücklegen muss. Das Themenfeld Nachhaltigkeit ist so groß, dass ich auf meiner Agenda im Moment nichts anderes brauche.”

Um die selbstgesteckten Ziele in puncto Nachhaltigkeit wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht zu erreichen, sind Flexibilität und Adaptionsfähigkeit unabdingbare Fähigkeiten. Agilität auf physischer wie auch auf mentaler Ebene gilt es immer wieder unter Beweis zu stellen. Für Pirelli kein Problem, wie Wolfgang Meier meint: “Wir haben als Unternehmen den Vorteil, dass wir klein sind. Wir sind in der Reifenindustrie ein kleiner Spieler, ein agiler Spieler, ein innovativer Spieler und wir sind italienisch. Und das heißt eine ganze Menge.” Was genau, das hat uns Wolfgang Meier im Podcast erläutert. Hört gerne mal rein!

Ähnliche Artikel

Paul Englert
“Reifen sind das Wichtigste an einem Auto”
Paul Englert über Grenzbereiche und Reifentests
25_automotive_insights_podcast_Wolfgang_Meier
Made in Germany trifft italienische Kultur – Wolfgang Meier im Podcast-Interview
Zu Besuch im Pirelli-Werk Breuberg
Nokian Tyres Hakka Ring
“Der Hakka Ring wirkt wie ein Katalysator für künftige Produktentwicklungen”
Testcenter von Nokian Tyres in Spanien
Fahrsimulator
Nexen setzt auf VR und KI zur Vorhersage von Leistungsparametern
Virtuelle Realität strafft OE-Entwicklungsarbeit