BRV-Geschäftsführer Yorick M. Lowin im Interview
“Reibungen zwischen Handel und Industrie sind in gewisser Weise normal”
Seit rund sieben Jahren ist Yorick M. Lowin Geschäftsführer des Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk e.V. – und damit eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der nationalen Reifenbranche. Im Interview berichtet er von Herausforderungen in der Verbandsarbeit und den aktuell zentralen Themen der Branche.
Es sind durchaus turbulente Zeiten in der Reifenbranche. Anfang Februar wurden mehrere Reifenhersteller durchsucht, es geht um potenzielle Preisabsprachen im Ersatzmarktgeschäft. Aktuell lässt sich aber noch nicht viel sagen, wie dies den Handel tangiert?
Yorick M. Lowin: Wir als Verband sind im Moment noch nicht wirklich gefordert. Sollte sich der Anfangsverdacht erhärten, dass Preisabsprachen im Ersatzmarkt getroffen wurden, dann könnte es sein, dass das eine oder andere Mitglied durch diese möglichen Absprachen geschädigt wurde und dann möglicherweise Schadensersatzansprüche hätte. Das wäre möglicherweise ein Zeitpunkt, ab dem wir als Verband unsere Mitglieder informieren. Aber derzeit nehmen wir die Informationen erstmal zur Kenntnis.
Als Verantwortlicher des Branchenverbands agierst Du immer auch an der Schnittstelle des Handels zur Industrie. Wie gefordert bist Du aktuell?
Yorick M. Lowin: Ich denke, dass Reibungen zwischen Handels- und Industrie-Akteuren in gewisser Weise normal sind. Ich bin jetzt über 25 Jahre in der Verbandsarbeit tätig. Und in jeder Branche, in der ich gearbeitet habe, gibt es bestimmte Konfliktlinien. Die Industrie hat oftmals vielleicht auch eine andere Sichtweise als der Handel, was den Verkauf oder vor allem die Dienstleistungen betrifft.
Vor sieben Jahren begann Dein Weg in der Reifenbranche. Zuvor warst Du in ebenfalls verantwortlicher Position beim DSLV Bundesverband Spedition und Logistik e.V.. Wie fühlte sich der Einstieg beim BRV damals an, und wie ist das Gefühl heute?
Yorick M. Lowin: In meiner Funktion beim DSLV hatte ich bereits mit zwei namhaften Reifenherstellern zu tun, die dort als Fördermitglied fungierten. Und mir war schon klar, dass das Thema Reifen ein wichtiges ist. Meine ersten Reisen in Diensten des BRV, gemeinsam mit dem damaligen Geschäftsführer Hans-Jürgen Drechsler, illustrieren aber ganz gut meinen Wandel der Wahrnehmung: Mein Blick im Stau auf die Autobahn galt mehr dem Auflieger, während sein Blick weiter nach unten zielte. Je länger ich für den BRV unterwegs war, desto mehr wanderte mein Blick auch auf die Bereifung – das Produkt, das ich primär vertrete.
Im Podcast berichtet Yorick M. Lowin ausführlich über seinen Weg in die Reifenbranche.
Braucht man in der Verbandsarbeit eine bestimmte Konstitution? Gibt es Grundeigenschaften, die förderlich sind – beispielsweise besonders kämpferisch, oder eher das Gegenteil kooperativ und diplomatisch zu sein?
Yorick M. Lowin: Ich denke, es gibt keine Prototypen. Egal, wen man sich als Wirtschaftsführer oder Verbands-Verantwortliche anschaut – und die Verbandsstrukturen sind ja in Deutschland sehr ausgeprägt – gibt es ein breites Spektrum an Persönlichkeiten. Jeder oder jede muss für sich seinen Stil finden. In dem ein oder anderen Fall ist es für mich sicherlich förderlich, wenn man nicht sofort lospoltert, sondern auch mal eine Nacht drüber schläft, bevor man initiativ wird oder eine Entscheidung trifft. Der Fokus sollte in jedem Fall immer auf dem Ziel liegen, das man im Sinne der Verbandsmitglieder zu erreichen versucht. Der BRV vertritt in erster Linie den Reifenhandel vor Ort. Das heißt, über 80 Prozent unserer Mitglieder sind kleine Reifenservice-Betriebe, auch wenn sie innerhalb größerer Franchise-Systeme agieren. Ja, wir haben auch die Industrieakteure mit im Boot, aber das ist nicht unsere primäre Klientel. Ihre Heimat ist der Wirtschaftsverband der deutschen Kautschukindustrie.
Wenn wir uns das aktuelle Reifen-Business ansehen, kann man sagen, dass bestimmte Entscheidungskorridore kleiner erscheinen. Der Marktdruck ist gewachsen. Die Branche hatte mit einer Vielzahl an Krisen umzugehen: Corona, verschiedene Kriege und daraus resultierend eine schwierige gesamtwirtschaftliche Situation. Kann es sich aktuell zeitweise wie eine undankbare Aufgabe anfühlen, oder überwiegt die Freude an der Herausforderung und der Wirksamkeit des BRV?
Yorick M. Lowin: Aus der Perspektive unserer Verbands-Mitglieder war es natürlich sehr herausfordernd, mit solchen Mehrfachkrisen umzugehen. Aus Verbandssicht aber bietet sich natürlich die Gelegenheit, sich zu profilieren. Wir können zeigen, warum die Arbeit des BRV wirklich sinnvoll ist. Wenn die Wirtschaft boomt, wenn alles läuft, läuft die Verbandsarbeit ein wenig unter dem Radar. In diesen Krisensituationen aber haben wir als Branchenverband, der für die Interessen seiner Mitglieder eintritt, unser Spektrum an Möglichkeiten gezeigt. Aber um das klarzustellen: Für unsere Mitglieder und die Unternehmen in Deutschland wünsche ich mir, dass die Zahl der Krisen deutlich geringer wird.
Unser Einstieg war nun sehr auf Problematiken und Negatives konzentriert. Aber die Reifenbranche bietet natürlich zukunftssicher viele Chancen. Wir haben ein Produkt, das auf lange Sicht nicht ersetzbar sein wird. Gleiches gilt für die Dienstleistungen rund um den Reifen.
Yorick M. Lowin: Das ist völlig richtig. Die individuelle Mobilität bleibt bedeutsam. Die Zahlen des KBA zeigen, dass Mobilität vor allem auch bei jungen Leuten eine große Rolle spielt. Das konnte man auch auf der Essen Motor Show beobachten, die einen Besucherrekord vermeldete und viele junge Menschen anzog. Und der Reifen ist ein nicht zu substituierendes Teil am Auto. Beim Gedanken an Flugtaxen kommt mir ein Lächeln ins Gesicht. Auch künftige Fahrzeuge brauchen Reifen. Natürlich entwickelt sich das Produkt weiter, muss in den nächsten Jahren beispielsweise nachhaltiger werden. Und es gibt neue Konzepte, beispielsweise die Luftlos-Reifen eines Premiumherstellers, die im Ausland bereits im Praxiseinsatz getestet werden. Unsere Mitglieder müssen sich auf neuartige Konzepte einstellen. Es wird sicher auch schwieriger, was die Produktmarge angeht. Aber Serviceleistungen rund um den Reifen müssen von Fachbetrieben durchgeführt werden.
Die Reifenbranche hat sich in den letzten Jahren stark verändert und ist immer noch in der Transformation. Die Anforderungen in der Vermarktung und im Servicegeschäft mit Reifen sind vielfältiger geworden. Ein bedeutsames Feld ist auch das Thema Mitarbeitergewinnung.
Yorick M. Lowin: Trotz der Bemühungen der Bundesregierung um Zuwanderung und der Rekrutierung von Fachkräften wird es nicht so sein, dass wir plötzlich genügend Fachkräfte oder genügend Kräfte für alle Tätigkeiten haben werden. Unternehmen müssen sich also durchaus langfristig auch die Frage stellen, wie sie es schaffen, ihr Angebot an die Kunden in Zukunft mit weniger Leuten aufrechtzuerhalten. Aus BRV-Sicht wird das Thema Digitalisierung und vor allem Automatisierung eine große Rolle spielen. Es führt kein Weg daran vorbei, dass die Möglichkeiten ausgeschöpft werden, so dass die Kräfte, die zur Verfügung stehen, wirksam eingesetzt werden. Ja, es wird nicht alles automatisiert organisiert werden können, aber gerade wenn es um die Verwaltung oder vielleicht Angebotserstellung geht, kann viel automatisch erfolgen.
Das Thema Vier-Tage-Woche wird auch viel diskutiert. Aus unserer Sicht aber sind Überlegungen in diese Richtung problematisch. Wenn wir weniger Mitarbeiter:innen haben, und diese dann weniger arbeiten, vielleicht auch zu gleichen Konditionen, ist das aus Unternehmersicht sehr herausfordernd. Vor allem, wenn wir uns unsere Branche anschauen. Soll der Betrieb am Samstag oder gar am Freitag in Umrüstzeiten schließen?
Exakt, Handelsunternehmen müssen Antworten auf den Personalmangel finden. Die Forderung nach einer Vier-Tage-Woche wirkt dort eher weniger förderlich, zumindest in den Umrüstphasen. Denkbar könnten derartige Modelle aber in Zeiten sein, in denen der Kundenandrang weniger intensiv ist – also im Falle des Reifenhandels außerhalb der Umrüstzeiten. Aber lass uns abschließend auf das schauen, was das Jahr 2024 bringen wird. Unter anderem steht wieder The Tire Cologne an, der BRV ist als ideeller Träger stark eingebunden.
Yorick M. Lowin: Das ist ein sehr wichtiges Branchenevent. Vom 4. bis 6. Juni wird die Messe in Köln stattfinden. Derzeit sind bereits 90 Prozent der Ausstellungsflächen gebucht, so dass wir davon ausgehen, dass es wieder eine gute Veranstaltung wird. Als ideeller Träger unterstützt der BRV die Koelnmesse in der Planung. Es wird beispielsweise wieder eine Demonstrationsfläche geben, im Sonderformat “Werkstatt Live” werden die Unternehmen Hunter und Würth die Werkstattanforderungen der Zukunft zeigen. Parallel wird es einige Workshops geben, unter anderem auch zum Arbeiten an Elektrofahrzeugen.
Die Stände auf der Messe verändern sich. Das Thema Produktdesign gerät immer mehr in den Hintergrund, auch weil die Außendienstmitarbeiter:innen der Reifenhersteller einen tollen Job machen. Auf The Tire Cologne verstärkt sich der Netzwerkgedanke, die Messe als Plattform für den Austausch. Und auch das Thema Werkstatteinrichtung wird stärker gewichtet.
Ein Schwerpunkt wird besonders auch das Thema Nachhaltigkeit sein, in der Produktentwicklung sowie der Entsorgung und dem Recycling. Verschiedene Reifenhersteller, der BRV und Initiativen wie ZARE und AZuR bündeln hier ihre Kenntnisse und werden initiativ, um einen größeren politischen Druck aufzubauen.
Eine letzte Frage hinsichtlich der Notwendigkeit der Bündelung von Interessen im Aftermarket und Servicegeschäft: Der BRV und der ZDK sind in Bonn Nachbarn – wird man angesichts der Herausforderungen der Zukunft noch stärker zusammenarbeiten müssen und kooperatives Vorgehen anstreben?
Yorick M. Lowin: Von meiner Seite dazu ein ganz klares Ja. Wir müssen uns weiter vernetzen, auch der Service wird zunehmen. Das heißt, professionelle Reifendienstleister kommen zunehmend in den Kfz-Service. Professionelle Kfz-Serviceunternehmen machen häufig professionellen Reifenservice. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Verbandsarbeit. Wir werden enger zusammenarbeiten müssen. Ich will nicht sagen, dass wir fusionieren sollen, aber wir müssen uns weiter vernetzen. Und es geht nicht darum, sich gegenseitig Mitglieder abzuwerben, sondern wirklich um den Austausch von Informationen.