Herr Haigh, Nexen in Seoul, Pirelli in Breuberg oder auch Continental auf dem Contidrom – in jüngster Zeit haben einige Reifenhersteller (neue) Fahrsimulatoren an ihren F&E-Standorten installiert. Spüren Sie eine gestiegene Nachfrage nach Ihren Lösungen seitens der Reifenindustrie?
Ian Haigh: Ja, auf jeden Fall. Reifenhersteller haben sich in den letzten Jahren sehr deutlich hinsichtlich der Einführung und Integration von Driver-in-the-Loop-Simulationstechnologien positioniert. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der grundlegende Vorteil für Reifenhersteller besteht darin, dass DIL-Simulatoren ihre Zusammenarbeit mit OEM-Fahrzeugherstellern verbessern können, indem DIL-Simulatoren als effiziente Modellierungs- und Versuchsräume für die Entwicklung neuer Reifenausstattungen dienen können. Im Rahmen der Fahrzeugentwicklung dominieren Reifen viele Bereiche der subjektiven und objektiven Zielsetzung und tragen in hohem Maße – vielleicht mehr als jede andere Fahrzeugkomponente – zur Charaktergestaltung eines Autos bei.
Durch die Einbeziehung menschlicher Akteure ermöglichen DIL-Simulatoren virtuelle Testfahrten mit qualifizierten Testfahrern am Steuer. Dies ergänzt die traditionellen Ansätze zur Entwicklung neuer Reifenausstattungen, da so die Lücke zwischen gemeinsamen Computermodellierungsumgebungen – in denen Reifenhersteller und OEMs gemeinsam Möglichkeiten offline ausloten – und subjektiven Tests, die von der Bewertung von Fahrzeugen und Reifen auf Testgeländen nach der Fertigstellung physischer Prototypen abhängen, geschlossen wird.
Unmittelbare Vorteile durch den Einsatz von DIL-Simulatoren ergeben sich für Reifenhersteller ferner dadurch, dass weniger Abstimmungsrunden mit OEMs zur Bewertung und Genehmigung von Reifenspezifikationen notwendig sind. Prototyp-Reifen sind teuer, ressourcenintensiv und zeitaufwendig, da sie die Produktion von Reifen in begrenzter Stückzahl in speziellen Formen erfordern. Der verringerte Ressourcenverbrauch hilft Reifenherstellern zudem dabei, ihre Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.
Welche Elemente und Kriterien lassen sich mit der neuesten Generation ihrer Driver-in-the-loop-Simulatoren (DIL) abbilden?
Ian Haigh: Bei der modernen DIL-Simulation geht es darum, das gesamte Fahrzeug sowie die Wahrnehmung des Fahrers abzubilden. Jedes Subsystem, das in Echtzeit simuliert werden kann, kann in den Prozess einbezogen werden: Fahrwerks- und Federungsdynamik, thermomechanisches Verhalten der Reifen, Aerodynamik, Lenksysteme, Bremsen, Hybridantriebe, Wärmemanagement und sogar die Wechselwirkungen zwischen mehreren Steuergeräten und Software-Controllern. Unser Flaggschiff-DIL-Simulator der neuesten Generation, der Delta S3, ermöglicht es, all diese Elemente in dynamischen, virtuellen Testsitzungen in Echtzeit zu testen, sodass Ingenieure und Prüfer selbst erleben können, wie sich das Fahrzeug als System verhält – und dies wiederholbar und effizient in einer Laborumgebung.
Was genau simuliert wird, hängt vom Kontext ab. Im Bereich Straßenfahrzeuge untersuchen DIL-Anwender möglicherweise Fahreigenschaften und Handling, NVH-Merkmale (Geräusche, Vibrationen und Rauheit), ADAS-Reaktionen (Advanced Driver Assistance System) oder wie ein Fahrer die Batteriereichweite unter gemischten Verkehrsbedingungen handhabt. Im Motorsport ist der Fokus enger: Runden- und Sektorzeiten, Reifenverschleiß, Aerodynamikempfindlichkeit, Rennstrategien und Leistungsmanagement sind gängige Untersuchungsbereiche.
Der rote Faden ist die Korrelation: Ganz gleich, ob Sie einen Lieferwagen auf einer nassen Autobahn oder ein Formel-E-Auto auf einem engen Straßenkurs simulieren – das Ziel besteht darin, das virtuelle Fahrzeug so reagieren zu lassen, wie es ein echtes Fahrzeug in derselben Situation tun würde, sodass menschliche Interaktionen genau abgebildet werden können. Auf diese Weise können echte Menschen Feedback auf Basis ihrer eigenen Erfahrungen geben, das wiederum in Fahrzeugänderungen einfließen kann.
Wo stößt das virtuelle System an seine Grenzen? Was geht (noch) nicht?
Ian Haigh: Was nicht möglich ist, unterliegt lediglich den physischen Größenbeschränkungen der DIL-Simulatorlabore und den Möglichkeiten der Modellierung und Ausführung in Echtzeit. Da der DIL-Simulator auf die menschliche Erfahrung ausgerichtet ist, sind Echtzeitberechnungen unerlässlich. Auf der Simulatorseite bedeutet dies, dass Bewegungen, Sicht und andere Eindrücke bereitgestellt werden müssen, die die Menschen effektiv in überzeugende Erfahrungen versetzen, die sie genauso empfinden lassen wie beim Fahren oder Mitfahren in einem echten Fahrzeug in einer realen Umgebung. Dieser Teil ist mit den aktuellen DIL-Technologien realisierbar – und er ist wirklich zentral für unser geistiges Eigentum und unser Fachwissen in Bezug auf unsere Bewegungsalgorithmen und Methoden zur Synchronisation mehrerer Systeme. Bei der Modellierung von Fahrzeugsubsystemen sind jedoch oft strategische Kompromisse notwendig.
Effizientere und auch schnellere Entwicklungsprozesse durch den Einsatz von Fahrsimulatoren werden seitens der Industrie immer wieder betont. Gibt es auch einen Gewinn in puncto Sicherheit, weil weniger Testfahrten in realen Grenzbereichen notwendig sind?
Ian Haigh: Ja, und das ist kein unwesentlicher Punkt. Wenn Sie in einem DIL-Labor Extremfälle proben – schlechtes Wetter, Software- oder Komponentenausfälle, unberechenbare menschliche Reaktionen –, bringen Sie weder Menschen noch Prototypen in Gefahr. Dies ist besonders wertvoll für ADAS- und autonome Programme, bei denen Sie unbehagliche – und manchmal gefährliche – „Was-wäre-wenn“-Szenarien ohne reale Konsequenzen untersuchen möchten. Im Hinblick auf das KI-Training ist die Konfrontation mit Fehlern tatsächlich der Schlüssel zu effektivem maschinellem Lernen. Und es ist viel besser, diese Fehler in einem DIL-Labor zu programmieren, als echte Menschen und Hardware in der Praxis zu gefährden.
Das gleiche Prinzip gilt im Motorsport, wo mutigere oder unorthodoxere Strategien in virtuellen Fahrsitzungen ausprobiert werden können, bevor jemand auf einer echten Rennstrecke das Lenkrad in die Hand nimmt. Natürlich ist die Validierung nach wie vor wichtig, aber in der virtuellen Welt kann ein breiteres Spektrum an Bedingungen und Ergebnissen erprobt werden.
Um den maximalen Nutzen aus dem Einsatz eines Simulators zu ziehen, ist ein optimales Zusammenspiel zwischen Hardware, Software und dem Faktor Mensch notwendig. Wie gelingt das? Und warum ist trotz der fortschrittlichen Technik weiterhin menschlicher Input wichtig?
Ian Haigh: Korrelation ist entscheidend – und erfordert einen strukturierten, methodischen Ansatz auf jeder Ebene. Fahrzeugmodelle müssen mit realen Strecken- oder Straßendaten abgeglichen werden, um Verbesserungen in der Genauigkeit der DIL-Simulation zu ermöglichen. Bewegungs-, Sicht- und Audio-Signale werden auf einstellige Millisekunden skaliert und synchronisiert, damit echte Menschen auf natürliche Weise mit den Bordsystemen interagieren können. Lenkungshistogramme, Latenz- und Frequenzgangprüfungen sowie andere systemspezifische zeitbasierte Vergleiche werden verwendet, um zu überprüfen, ob sich das virtuelle Fahrzeug wie sein physisches Gegenstück verhält.
Die Wechselbeziehung zwischen menschlicher Interaktion und fortschrittlichen Fahrzeugtechnologien kann kontraintuitiv sein. So könnte man beispielsweise annehmen, dass bestimmte Fortschritte – insbesondere im Bereich der autonomen und selbstfahrenden Fahrzeuge – die Bedeutung der auf den Menschen ausgerichteten Fahrzeugentwicklung verringern würden. Tatsächlich ist jedoch das Gegenteil der Fall. Wir haben festgestellt, dass der Wert der Einbindung des Menschen direkt proportional zum Grad der Intervention durch assistive Technologien ist, d. h. mehr KI erfordert eher mehr DIL-Simulationen und -Bewertungen als weniger.
Wie kompliziert ist die Bedienung der Simulatoren? Benötigt das F&E-Personal besondere Kenntnisse?
Ian Haigh: DIL-Simulatoren sind echte Ingenieurslabore, die virtuelle Testumgebungen und Testfahrterfahrungen bieten sollen. Als solche erfordern sie eine Überwachung und Betriebskompetenz, die sich von physischen Fahrzeugtestprogrammen unterscheidet. Der Hauptunterschied besteht nicht in der Durchführung virtueller Testsitzungen oder der Datenerfassung, sondern vielmehr in der erforderlichen Fachkompetenz in Bezug auf Laborgeräte und Computersysteme.
Unter unseren bestehenden Kunden profitieren diejenigen am meisten von ihren DIL-Labors, die multidisziplinäre Teams gebildet haben, die dauerhaft dem DIL-Labor zugewiesen sind und bestimmte Aufgaben übernehmen, wie z. B. den Betrieb, die Erfassung und Analyse objektiver und subjektiver Daten sowie die Vorbereitung und Pflege der Datenbanken mit virtuellen Fahrzeugmodellen und virtuellen Umgebungen. Der Betrieb des Simulators selbst ist unkompliziert und kann problemlos von einem oder zwei qualifizierten Technikern überwacht werden. Die übrigen technischen Aufgaben können je nach Komplexität des Programms von einer oder mehreren Personen überwacht werden. In der Regel arbeiten alle zusammen auf das gemeinsame Ziel hin, virtuelle Testsitzungen zu nahtlosen und effizienten „Arrive-and-Drive”-Veranstaltungen zu machen.
Wir sind uns auch bewusst, dass die Lieferung eines Simulators an einen Kundenstandort nicht das Ende, sondern vielmehr den Beginn unserer Beziehung darstellt. Wir bieten fortlaufenden Service, technischen Support und Schulungen, damit Ingenieure und Fahrer weiterhin das Beste aus ihren installierten DIL-Simulatoren herausholen können. In der Regel umfasst dies die Kalibrierung für verschiedene Anwendungsfälle, die Bereitstellung von Updates und die Integration mit verschiedenen Hardware- und Software-in-the-Loop-Systemen (HIL und SIL), um mit den sich weiterentwickelnden Anforderungen an das Fahrzeugdesign Schritt zu halten. Kurz gesagt, wir übernehmen die Aufgabe, sicherzustellen, dass alle von uns eingesetzten DIL-Simulatoren in der Praxis relevant bleiben und als zuverlässige Fahrzeugentwicklungswerkzeuge eingesetzt werden können.
Simulatoren von Ansible Motion kommen neben der Reifenindustrie auch bei Automobilherstellern sowie im Motorsport zum Einsatz. Gibt es besonders prestigeträchtige Partnerschaften oder ein Projekt, auf das sie besonders stolz sind?
Ian Haigh: Es gibt mehrere. Langjährige Beziehungen zu großen OEMs wie Honda, Ford, BMW und General Motors sind sicherlich erwähnenswert. Dies sind Unternehmen mit globaler Präsenz, die unsere Simulatoren in umfangreichen Forschungs- und Entwicklungsprogrammen eingeführt haben. Wir fühlen uns geehrt, dass unsere Tools Teil der Entwicklung von Fahrzeugen sind, die täglich von Millionen Menschen auf der ganzen Welt gefahren werden.
Der Motorsport ist eine andere, aber ebenso wichtige Kategorie. Zu unseren Kunden zählen die meisten Top-Serien, darunter die Formel 1, IndyCar, NASCAR, die Rallye-Weltmeisterschaft und die Langstrecken-Weltmeisterschaft. Wir freuen uns, dass uns Motorsportteams als Lieferanten vertrauen, da sie oft an der Spitze des technologischen Fortschritts stehen und unsere neuen DIL-Simulationsangebote bereits in der Forschungs- und Entwicklungsphase frühzeitig einsetzen. Im Übrigen sind wir derzeit dabei, eine neue, spezielle Simulatorreihe mit dem Namen DIL Sport einzuführen, die über eine Reihe von speziellen Funktionen und Fähigkeiten verfügt, die eigens für Motorsportanwendungen entwickelt wurden.
Motorsportorganisationen können mitunter noch verschwiegener sein als OEMs, daher findet ein Großteil unserer Beteiligung an Rennsimulationen ausdrücklich „hinter den Kulissen“ statt, abgesehen von gelegentlichen öffentlichen Erwähnungen durch Ford Performance, Honda Racing, DS Penske und einige andere. Unsere jüngste Zusammenarbeit mit DS Penske in der Formel E ist besonders interessant: Wir haben eine Multi-Sim-Umgebung geliefert, die einen unserer dynamischen Delta S3-Simulatoren mit einer Reihe unserer statischen Theta-Simulatoren verbindet. Dadurch können mehrere Fahrer und Ingenieure dieselbe virtuelle Rennstrecke in Echtzeit gemeinsam nutzen, was es ermöglicht, strategische Entscheidungen, Renntechnik und Energiemanagement mit einem bisher unerreichten Realitätsgrad zu erforschen.
Ermöglichen Simulatoren F&E-Ingenieuren mehr Freiheiten, neue Ideen zu erforschen und mehr Kreativität, als dies bei physischen Tests der Fall wäre?
Ian Haigh: Absolut. Dies ist einer der grundlegenden Vorteile der DIL-Simulation. Wenn Fahrzeugentwicklungsteams Schraubenschlüssel durch Tastatureingaben ersetzen können, öffnet sich die Tür zu schnelleren Iterationen und ehrgeizigeren „Was-wäre-wenn“-Überlegungen, d. h., Ingenieure haben die Freiheit, Ingenieure zu sein. Wir haben immer wieder gesehen, dass dieser explorative Spieplatzaspekt kreatives Denken fördert und Innovationen anregt – von der Entwicklung neuartiger Fahrzeugfunktionen bis hin zur Suche nach neuen Wegen, um kritische Zehntelsekunden auf einer Rennstrecke einzusparen.
DIL-Simulatoren senken auch die Kosten für Forschung und Entwicklung sowie für Experimente erheblich, insbesondere angesichts der aktuellen Situation, in der Fahrzeughersteller unter zunehmendem Druck stehen, komplexe Bordtechnologien einzuführen und gleichzeitig Kosten und Markteinführungszeiten zu reduzieren. Das Paradigma der vollständigen Abhängigkeit von kostspieligen physischen Prototypen – zusammen mit den damit verbundenen Reise- und Ressourcenaufwendungen usw. – in den frühen Entwicklungsphasen kann zugunsten digitaler Produktentwicklungsansätze und in einigen Fällen sogar zugunsten virtueller Freigaben verschoben werden.
Künstliche Intelligenz als Faktor haben Sie bereits angesprochen. Welchen Einfluss hat KI auf Ihre Arbeit bzw. inwieweit lassen sich KI-Funktionen in Ihre Simulatoren integrieren?
Ian Haigh: KI beeinflusst bereits jetzt die Art und Weise, wie unsere Simulatoren eingesetzt werden. Was mit ADAS und Entwicklungen im Bereich des autonomen Fahrens begann, hat sich auf die Bereiche Antriebsstrangsteuerung, Energiemanagement und Sicherheitssysteme ausgeweitet. Viele unserer Kunden nutzen ihre DIL-Simulatorlabore mittlerweile als Lernumgebungen für maschinelles Lernen und setzen Algorithmen in Szenarien ein, deren Erforschung in der realen Welt zu riskant wäre, damit intelligente Systeme besser lernen können, was sie nicht tun sollten.
Gleichzeitig wird KI immer nützlicher für die Verwaltung der riesigen Datenmengen, die wir in unseren DIL-Simulatorlaboren in Bezug auf Fahrzeugphysik, Steuerungssysteme, Fahrerbiometrie und Umgebungsbedingungen generieren. Außerdem hilft sie Ingenieuren und Datenanalysten dabei, Muster zu erkennen und Erkenntnisse zu erlangen, die ihnen sonst möglicherweise entgehen würden. Für uns liegt der Wert nicht darin, KI per se in Sensoren zu integrieren, sondern darin, robuste, sichere, wiederholbare und korrelierte virtuelle Umgebungen bereitzustellen, in denen KI-Implementierungen getestet, trainiert und als vertrauenswürdig eingestuft werden können.
| Zum Unternehmen Ansible Motion wurde im Jahr 2009 gegründet und ist im Hethel Engineering Centre in der Nähe der ostenglischen Stadt Norwich ansässig. Neben eigenen Fertigungsanlagen befindet sich dort auch das F&E-Zentrum. Das Spezialgebiet des Unternehmens sind Lösungen für die physikalische und logische Simulation von Fahrzeugsystemen. Diese werden von Automobil- und Reifenherstellern sowie im Motorsport eingesetzt. Seit 2022 gehört Ansible Motion zu AB Dynamics plc. |